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„Es ist ein Mythos, dass stillen ein Instinkt ist“

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Familie & Leben

„Es ist ein Mythos, dass stillen ein Instinkt ist“

Scheinbar ist Stillen die natürlichste Sache der Welt. Aber in der Realität sind dann da oft höllische Schmerzen, Milchmangel oder Kinder, die nicht trinken wollen. Verzweiflung pur. Dann braucht man einen Menschen wie Alwine Bohusch. Als Stillberaterin hilft sie in der Not.

„Es ist ein Mythos, dass stillen ein Instinkt ist“

Damit das Stillen irgendwann so klappt, leistet Alwine Bohusch manchmal echte Detektivarbeit. Foto: dpa/Monika Skolimowska

Laut einer Unicef-Studie stillen 77 Prozent der deutschen Mütter, aber vier Fünftel davon hören noch vor dem sechsten Lebensmonat wieder auf. Woran liegt’s?Ich vermute, es liegt auch daran, dass die Mütter wenig Unterstützung bekommen, vor allem wenig fachlich korrekte. Wir haben hier in der Klinik auch viele Frauen, die keine Nachsorgehebamme gefunden haben. Die sind nach der Entlassung ganz auf sich gestellt. Und wenn das Wissen nicht da ist, geben sie einfach schnell auf. Auch nicht jede Hebamme ist bereit zuzugeben, wenn sie an ihre Grenzen stößt, und auch nicht dazu, sich noch Hilfe mit ins Boot zu holen.Was sind denn die häufigsten Probleme, die es beim Stillen gibt?Schmerzende, wunde Brustwarzen oder auch Schmerzen beim Stillen. Das kann zum Beispiel sein, wenn es Gefäßverengungen in der Brust gibt. Zu wenig Milch ist auch ein sehr häufiger Grund fürs Abstillen. Wenn die Frauen nicht gut in die Milchbildung kommen und die Kinder nicht gut gedeihen.

Kann wirklich jede Frau genug Milch bilden?

Es gibt einerseits den subjektiven Milchmangel. Wenn jemand das Gefühl hat, es kommt zu wenig Milch. Wenn die Kinder zum Beispiel sehr häufig an die Brust möchten mit wenig Pausen. Oft bedeutet das, dass die Kinder die Milchbildung in Gang kriegen wollen, sie regen die Hormonbildung an, Angebot und Nachfrage wird geregelt. Es gibt aber auch den echten Milchmangel, wenn die Kinder nicht gut gedeihen und zu wenig ausscheiden. Dann muss man nach den Ursachen schauen.

Zum Beispiel?

Das kann am Stillmanagement liegen. Also dass die Kinder nicht oft genug angelegt werden und deshalb die Milchproduktion nicht ausreichend angeregt wird. Ein anderer Grund ist, dass die Kinder nicht richtig angelegt werden, sodass das Kind die Brust nicht effektiv entleert. Oder dass das Kind ein zu kurzes Zungenbändchen hat. Oder die Mutter hat eine Schilddrüsenunterfunktion. Das ist dann Detektivarbeit. Grundsätzlich könnten die meisten Frauen stillen. Aber es braucht halt Unterstützung und Wissen. Man braucht einfach jemanden, der einem eine Perspektive gibt.

Auf der einen Seite geht es wahrscheinlich um die medizinische Seite und die richtige Technik. Auf der anderen um die Psyche der Mutter.

Ja, ganz wichtig. Stillen ist ein sehr emotionales Thema. Die Devise heißt „Mothering the mother“, als die Mutter bemuttern. Man muss ihr das Gefühl geben, du machst es gut so. Und dass man versteht, wie anstrengend das alles ist. Durch die hormonelle Umstellung ist auch alles noch emotionaler.

Sehen Sie viele Tränen?

Ja, definitiv. Und manchmal weine ich auch mit. Es hilft oft schon, dass jemand zuhört. Manchmal müssen es gar nicht die Ratschläge sein, sondern die emotionale Unterstützung. Deshalb ist auch die Hebammenarbeit so wichtig. Ich komme ja oft erst ins Spiel, wenn die Probleme schon richtig massiv sind. Dann vermitteln die Hebammen den Kontakt oder die Frauen melden sich selbst bei mir.

Sie haben vor drei Jahren selbst ein Kind bekommen. Hatten Sie da nochmals eine überraschende Still-Erkenntnis?

Ich hatte natürlich einen totalen Vorteil, weil das Wissen einfach da war. Aber nichtsdestotrotz ist man in dem Moment einfach nur Mama und geht viel emotionaler an die Sache ran. Mir selbst war ich die schlechteste Beraterin. Da habe auch ich mal jemand von außen gebraucht, der mir sagte, es ist alles in Ordnung. Und auch die Erfahrung, so völlig fremdbestimmt zu sein vom Kind, war für mich neu.

Was sind denn die größten Mythen übers Stillen?

Ich denke, da gibt es so einen Idylle-Mythos über das gesamte Leben mit Baby. In den Medien oder auf den Instagramfotos der Freundinnen sieht das Leben mit der kleinen Familie meist so selig aus. Und die Realität trifft einen dann oft ganz hart. Da ist dann zum Beispiel der Schlafmangel, und man muss die Bedürfnisse der Kinder erst einmal kennenlernen und verstehen lernen, wie sie sich äußern.

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Alwine Bohusch: „Stillen ist ein sehr emotionales Thema. Die Devise heißt: die Mutter bemuttern.“ Foto: Roberto Bulgrin

Ich hatte auch die Vorstellung, dass man als Mutter ganz natürlich erspürt, was das Kind braucht. Und dann hatte ich gar keine Ahnung.

Ja. Das ist tatsächlich auch ein Mythos über das Stillen, dass es ein Instinkt wäre. Aber es ist eigentlich eine sozial erlernte Fähigkeit. Und das erste Kind, das wir überhaupt auf der Hand haben, ist heute oft unser eigenes. Das war früher in den Großfamilien ganz anders. Man hat gar keine Möglichkeit, den Umgang mit einem Baby zu erlernen. Viele denken, das Stillen wird schon klappen. Oder: Ich stille, wenn es klappt. Dann gehen sie schon mit der Einstellung rein, dass sie es womöglich nicht können oder die anatomischen Voraussetzungen nicht passen.

Meiner Mutter haben sie damals – das war in den 70ern – in der Klinik gleich gesagt, dass das mit ihren Brustwarzen nichts wird. Damit war das Thema Stillen durch.

Damals war Stillen ohnehin nicht modern. Und die Babynahrungsindustrie propagierte ziemlich erfolgreich, dass Milchpulver viel hygienischer sei. Das ist einfach ein riesengroßer Markt. Nach wie vor hat die Industrie ziemlich großen Einfluss. Zum Beispiel, dass in Deutschland die Empfehlung für die Einführung von Beikost zwischen dem vierten und siebten Monat liegt – obwohl die WHO ja sechs Monate empfiehlt. Beim SWR lief dazu kürzlich eine tolle Doku mit dem Titel „Das Geschäft mit der Babymilch“. Sie ist nach wie vor in der Mediathek abrufbar. Kann ich sehr empfehlen.

Kann jede Frau stillen?

Eigentlich könnte fast jede Frau stillen. Aber selten kommt es vor, dass es wegen einer Erkrankung nicht geht oder die Frauen nicht in die volle Milchbildung kommen. Ich finde es sehr wichtig, dass jede Frau selbst bestimmen kann, ob sie stillen möchte und dass sie selbst den Zeitpunkt bestimmen darf, wann sie abstillen will. Aber wenn sie aufgrund falscher Beratung nicht stillen kann, ist das etwas anderes. Das finde ich immer sehr schade für die Frauen.

Kann es die Form der Brustwarzen tatsächlich schwieriger machen?

Jede Frau hat eine andere Form. Und auch Frauen mit flachen, kleinen, Schlupf- oder Hohlwarzen können stillen. Manchmal kann das etwas mehr Unterstützung benötigen, aber nicht so, dass man von vorneherein sagen kann, das geht nicht. Das passiert übrigens auch heute noch, dass den Frauen gesagt wird, mit Ihren Brustwarzen wird das nichts. Für mich ist die Form der Brustwarze erst mal völlig irrelevant. Denn das Kind saugt eigentlich nicht an der Warze, sondern an der Brust. Es muss den Mund weit genug öffnen und dann die Brustwarze mit Vorhof einsaugen, damit es sie richtig entleeren kann.

Die Fotografin Steffi Drerup fotografiert in einem Projekt Mütter, die zum Teil fünf oder sechs Jahre stillen. Sie hat sich sehr schwer getan, Protagonistinnen zu finden, weil langzeitstillende Mütter oft stark angefeindet werden.

Erst mal stellt sich doch die Frage: Ab wann spricht man von Langzeitstillen? Wer gibt das vor? Was ist denn überhaupt normal? Nur weil wir in Deutschland eine durchschnittliche Stilldauer von sieben Monaten haben. Es stillen sehr viele Mütter wesentlich länger, als man es sich vorstellen kann, weil es nicht in der Öffentlichkeit passiert. Viele stillen ihre Kinder dann nur noch abends zum Einschlafen oder morgens zum Aufwachen. Es ist oft so, dass die Frauen selbst nicht erwartet hätten, dass es so viele Jahre gehen würde. Es hat sich einfach gut eingespielt, es ist vielleicht einfach eine zuverlässige Einschlafhilfe. Und solange das für einen selbst und das Kind gut passt, darf man das ja auch tun.

Warum reagieren wir so konsterniert, wenn ein drei- oder vierjähriges Kind gestillt wird?

Das natürliche Abstillalter liegt zwischen zweieinhalb und sieben Jahren. Bei Naturvölkern wird im Schnitt drei Jahre gestillt. Das reguliert auch ein bisschen die Geburtenfolge, dass die Kinder nicht so nah aufeinander kommen. Das können wir uns gar nicht mehr vorstellen. Dagegen erscheint es uns ganz normal, dass dreijährige Kinder noch einen Schnuller oder eine Flasche zum Trinken haben. Dabei ist eigentlich das andere das Natürliche. Ich finde, wir müssten darüber viel offener kommunizieren.

Haben Sie einen Tipp, was grundsätzlich hilft, einen guten Start hinzukriegen?

Sich vorher damit auseinandersetzen. Sehr viel nackten Hautkontakt gleich ab Geburt, das unterstützt die Hormonausschüttung und das richtige Anlegen. Und am Anfang 8 bis 12 Mal in 24 Stunden anlegen. Falls das Baby das nicht mitmacht, weil es sehr müde ist, kann man das Kolostrum auch ausstreichen und per Hand geben. Und sich frühzeitig kompetente Unterstützung suchen.

Wie findet man eine Stillberaterin?

Die kann man online finden, auch hier im Umkreis gibt es einige. Der einzige Nachteil ist, dass es keine Kassenleistung ist und privat bezahlt werden muss. Das sagt natürlich auch etwas über den Stellenwert des Stillens in unserer Gesellschaft aus. Aber man kann auch bei ehrenamtlichen Stillberaterinnen Unterstützung finden wie zum Beispiel bei der La Leche Liga.

Das Gespräch führte Doris Brändle.

Zur Person

Alwine Bohusch (32) ist Gesundheits- und Kinderkrankenpflegerin. Zusätzlich hat sie eine Ausbildung zur Still- und Laktationsberaterin IBCLC. Sie lebt mit ihrem Mann und ihrem Sohn in Nellingen. Im Klinikum Esslingen berät sie Wöchnerinnen. Auch in einer Hebammenpraxis in Neuhausen bietet sie Hilfe bei Stillproblemen und leitet eine Stillgruppe.

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